Archiv für August 2010

Wie die Frauenbewegung zum Gender-Management kam

Dienstag, 17. August 2010

von Tove Soiland, gleichzeitig erschienen in telegraph # 120|121 (2010)

Ich muss gestehen, dass die Zeit, während der ich an diesem Vortrag schrieb(1), eine unruhige Zeit war: ich wurde beständig unterbrochen – und zwar eigentlich von niemand anderem als mir selbst. Ich war nämlich fast unentwegt damit beschäftigt, auf diversen Internetseiten die neuen roten, grünen, blauen und gelben Fähnchen zu zählen, die da, farbigen Geysieren gleich, aus dem trockenen Kartenboden von google-map hervorsprangen, für jeden neuen besetzten Hörsaal und jede Universität eins. Ich war damit beschäftigt, mich per youtube und livestream virtuell in diese besetzten Hörsäle einzuklinken, ich lauschte stundenlang und mit angestrengtem Ohr, weil oft die Technik noch nicht wirklich funktioniert, den dort stattfindenden Meinungsbildungsprozessen, einfach, weil mich die Art, wie diese jungen Menschen miteinander diskutierten, ebenso faszinierte wie tief berührte. Und zu guter letzt war ich abgelenkt von meinen eigenen bescheidenen Aktivitäten, zusammen mit Gleichgesinnten eine ebensolche Diskussion auch unter Lehrenden in Gang zu bringen. Und so kam ich zum Schluss, dass ich derzeit offenbar nicht öffentlich sprechen kann, ohne auch über die StudentInnenproteste zu sprechen und vor allem über deren Ursache: den Bolognaprozess. Warum gehen mir diese Proteste so nahe? Was beschäftigt mich als freie Lehrbeauftragte an Bologna, und zwar in einer Weise, die mich, der es bisher vor allen elektronischen Vernetzungen graute, weil ich sie für eine unnötige Ablenkung hielt, die mich also als schon etwas Ergraute zu diesen Kästchen von twitter und facebook trieb?

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Faschismus und Antifaschismus

Dienstag, 17. August 2010

von Kamil Majchrzak, gleichzeitig erschienen in telegraph # 120/121 (2010)

Gespräch mit dem Historiker Enzo Traverso

Der jährlich erscheinende Verfassungsschutzbericht soll „Ausdruck der Entscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie [sein], die die richtige Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik ist“. Darin werden direkte Aktionen gegen Neofaschisten und Antifaschismus kriminalisiert, weil diese das „kapitalistische System“ bekämpfen, um die „angeblich innewohnenden Wurzeln des Faschismus zu beseitigen“(1) Ist es möglich Demokrat ohne zugleich Antifaschist zu sein?

Enzo Traverso: Die grundlegende Frage ist, was es heutzutage bedeutet, Antifaschist zu sein. In Deutschland gab es nach der Wiedervereinigung eine Ablehnung des Antifaschismus, diese Zurückweisung ging einher mit dem Willen, die Vergangenheit der DDR bewusst wegwischen zu wollen.

Dadurch, dass der Antifaschismus ständig in Zusammenhang mit der DDR gebracht wurde, galt er als DDR-Ideologie und das wiedervereinigte Deutschland konnte und wollte dieses Erbe nicht tragen.

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Es gibt (immer noch) kein richtiges Leben im falschen

Dienstag, 17. August 2010

von Kamil Majchrzak, gleichzeitig erschienen in telegraph # 120/121 (2010)

Im Jahr 1989 bekamen Osteuropäer die seltene Gelegenheit, den Beginn und die Ursprungsquelle einer neuen Gesellschaftsordnung direkt beobachten zu können. Vor allem aus einer kapitalismus-kritischen Perspektive bietet sich ein solcher Moment an, die gegenwärtig als naturgegeben kanonisierten Konzepte von Staat, freier Marktwirtschaft und Demokratie an der Materialität der sozialen Wirklichkeit zu überprüfen. Denn das, was sich zwanzig Jahre lang vor unseren Augen abspielte, war die Restauration des Kapitalismus auf den Ruinen der nominalsozialistischen Gesellschaften. Jegliche Augenwischerei von sozialem Kontrakt oder wilden Naturzuständen, aus denen heraus sich Menschen zu einem modernen Staat zusammenschließen, der ihnen Sicherheit und Freiheit garantiert, kann historisch überprüft und zugleich entmystifiziert werden.

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Mit 30 schon ein Zombie

Sonntag, 15. August 2010

Was ist aus den Protagonisten der Solidarnosc geworden? Die Verlierer unter ihnen machen für ihr Scheitern eine »jüdische Verschwörung« verantwortlich.

von Kamil Majchrzak

abgewandelt gleichzeitig erschienen in Jungle World Nr. 32, 12. August 2010,  S. 5; Der Freitag # 34 vom 26. August 2010,  S. 12; Graswurzelrevolution # 351 vom September 2010

Das Szenario der jährlichen Gedenkfeiern hat sich seit Jahren nicht verändert. Doch die von der Intelligenzija einst angehimmelten Arbeiter spielen in der Erzählung vom Fall des Kommunismus kaum eine Rolle mehr. Bei den offiziellen Feierlichkeiten am 4. Juni – dem Tag, an dem 1989 die ersten, noch nicht wirklich freien Wahlen in Polen stattfanden – dürfen sie nicht einmal mehr als Komparsen auftreten. Zuschauerplätze stehen nicht zur Verfügung. Aus Sicherheitsgründen.

»Ich will nicht, dass Gewerkschafter mit Solidarnosc-Fahnen auf Polizisten einprügeln und umgekehrt.« Mit diesen Worten rechtfertigte Premierminister Donald Tusk bereits vor einem Jahr, dass die Feierlichkeiten zum »Sturz des Kommunismus« von Gdansk auf die Wawel-Burg in Kraków verlegt wurden. Erst vor kurzem wurde dort der bei einem Flugzeugabsturz in Smolensk verunglückte rechtskonservative Präsident Lech Kaczynski samt Gattin neben den Königen in einem Alabastersarkophag beerdigt. Spielte zum 25. Jahrestag noch Jean Michel Jarre in der Danziger Lenin-Werft seine »Shipyard overture (Indus­trial revolution)«, während Anna Walentynowicz, das Ehepaar Joanna und Andrzej Gwiazda und andere Aktivisten, ohne die es die Solidarnosc nicht gegeben hätte, vor der Werft protestierten, lädt man dieses Jahr zum Mega-Konzert vorsichtshalber nicht in die Werft, sondern nach Katowice ein. Dort soll die deutsche Band Alphaville zum 30. Geburtstag der Solidarnosc ihren Smash-Hit »Forever Young« anstimmen.
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Wer stört den deutschen Rechtsfrieden?

Samstag, 07. August 2010

Polish_farmers_killed_by_German_forces,_German-occupied_Poland,_1943.jpg
Ermordung von Bauern durch deutsche Besatzungtruppen in Polen

von Kamil Majchrzak

gleichzteitig erschienen in Ossietzky # 14/15 (2010).  Erweiterte juristische Analyse im Informationsbrief des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) # 104 (2010)

Es geschah am frühen Morgen. Gendarmerie, SS und die ukrainische SS aus Galizien umstellten Szczeczyn, ein kleines ostpolnisches Dorf, das sich an einem von Holzwagen zerfurchten Sandweg entlang zog. Als einige Dorfbewohner an jenem 2. Februar 1944 gerade zur Lichtfeier in die Kirche aufgebrochen waren, wurden andere durch Schüsse, Schreie und Gewehrkolben aus ihren Häusern getrieben. Männer wurden sofort erschossen. Frauen und Kinder auf dem zentralen Dorfplatz zusammengetrieben. Die traditionelle Kerzen-Prozession verwandelte sich in eine Feuersbrunst. Winicjusz Natoniewski, einer der Überlebenden, gehört zu der großen Zahl von Menschen in den damals von deutschen Truppen besetzten Gebieten, die als zivile Opfer des Krieges nie Wiedergutmachungsleistungen aus Deutschland bekommen haben. Er fordert nun von der BRD als Rechtnachfolger des Nazi-Reiches ein Schmerzensgeld in Höhe von umgerechnet 250.000 Euro.

Der damals fünfjährige Winek versteckte sich während des Überfalls mit seinem Großvater in einer Erdhöhle. Seine Schwester wurde mit der Mutter auf den mit Leichen übersäten Weg zum Dorfplatz getrieben. Als die Flammen immer näher kamen, schlich sich der Großvater heraus, um zu prüfen, ob die Deutschen abgezogen waren. Der verängstigte Winek hielt es dann auch nicht mehr in dem Versteck aus. Er rannte an dem brennenden Haus seiner Familie entlang und fing Feuer. An Gesicht und Körper erlitt er schwere Brandwunden, die Finger schmolzen zu dicken Knollen zusammen. Zeugen berichteten, wie schrecklich es war, als sich die Haut vom Kopf des Jungen löste.
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