Reaktionäre Reeducation
Für Gott, Ehre und Vaterland: Polens Antifa betreibt nationale Heldenverehrung.
Von Kamil Majchrzak, gleichzeitig erschienen in Konkret #4/2015
In den vergangenen 20 Jahren hat die Debatte um Antisemitismus und Ignoranz gegenüber der jüdischen Verfolgungsgeschichte innerhalb der deutschen Linken eine wichtige Rolle gespielt. Obwohl sie mit zum Teil kruden Argumenten geführt wurde, hat sie das fällige Überdenken der eigenen vermeintlich selbstverständlichen geschichtspolitischen Position sehr befördert. Welche Verheerungen dagegen im eigenen politischen Bewusstsein das Unterlassen einer solchen Reflexion anrichtet, zeigt das Beispiel der Antifa Polens.
Der Großteil der jüngeren polnischen Generation wurde in der Zeit des Siegeszugs der Totalitarismusdoktrin politisiert, die als Staatsideologie vorgibt, Geschichtliches zu beschreiben. Seit 1989 dient sie in Polen zur Rechtfertigung der gegenwärtigen Verhältnisse und Verschleierung der Verstrickung der polnischen Gesellschaft in den Völkermord an den europäischen Juden. Die zur gleichen Zeit auflebende Heldenverehrung des sogenannten Untergrunds vernebelt die Kontinuität antisemitischer Zustände. Dabei wäre eine starke antifaschistische Kraft angesichts der Hegemonie der extremen Rechten in Osteuropa notwendiger denn je.
Anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht pilgerte im Herbst letzten Jahres die Warschauer Antifa vor das Denkmal des Polnischen Untergrundstaates und Widerstandsarmee Armia Krajowa (AK). Es wurden Blumen niedergelegt, Kerzen für „unsere Helden“ angezündet. Die Autorin Anna Zawadzka kennzeichnete dies als Kapitulation vor der herrschenden polnischen Geschichtspolitik: „Die Ideologien, welche die Grundlage des polnischen Nationalismus und Faschismus bilden – Militarismus, Patriotismus und Antikommunismus – werden unreflektiert durch den polnischen ‚Antifaschismus‘ vervielfältigt.“
Dabei wollte das Bündnis „Gemeinsam gegen Nationalismus“ demonstrieren, „um der Opfer des Faschismus zu gedenken“. Bereits vor einem Jahr hatten mehrere Hundert Antifaschistinnen und Antifaschisten der von deutschen Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden gedacht. Deshalb folgten sie damals auf ihrer Demoroute dem Weg, den der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak mit den Kindern seines Waisenhauses zum Umschlagplatz für den Transport in die Vernichtungslager genommen hatte. Viele im In- und Ausland deuteten dies als Erneuerung der Bewegung; sie hofften auf eine ernsthafte, bislang in der polnischen Antifa unterbliebene Auseinandersetzung mit der Shoah und dem herrschenden Antisemitismus. Doch waren antifaschistische Inhalte im Bewusstsein der Teilnehmer/innen wohl nur rudimentär verankert: Mit ihrem bizarren Selbstverständnis, die Antifa sei nicht links, katapultieren die Warschauer Antifa-Patrioten den Antifaschismus in die politische Bedeutungslosigkeit. Strategisch reduzierte die Warschauer Antifa dabei antifaschistische Inhalte auf ein Minimum, um sie herrschenden national-patriotischen Werten anzupassen. Taktisch setzte sie auf martialische Reviermarkierung durch Black-Block-Lifestyle und gesellschaftliche Isolation. Eine soziale Bewegung nimmt genau den umgekehrten Weg.
Arisierung der Shoah
Die Warschauer Antifa hatte bereits in der Vergangenheit die Symbole und Aktionsformen ihrer nationalistischen Gegner imitiert. 2011 wurde das Symbol vom „Kämpfenden Polen“ mitsamt der Jahreszahl 1944 (dem Datum des von der nationalen Rechten glorifizierten Warschauer Aufstands) als Erkennungszeichen etabliert. Mit der Verehrung des polnischen Untergrundstaates vollzog sich jedoch ein sichtbarer Bruch mit der internationalistischen Antifa-Tradition in Europa.
Nach Kritik aus Deutschland verschwand von den Websites der Organisatoren ein Demobericht, der noch einen Hinweis auf deren zentrale Kundgebung am Denkmal „Gott, Ehre, Vaterland“ enthielt, dessen Motto als „antifaschistisch“ mystifiziert wurde. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der Veranstalter „Pod brukiem, leży plaża“ („Unter dem Pflaster liegt der Strand“) wird eine Debatte simuliert, die keine ist. Darin heißt es: „Es hat den Anschein, dass wir uns, wenn wir nicht an die vorherrschende historische Erzählung anknüpfen, aus der ‚polnischen‘ Gesellschaft ausschließen. … Es ist wichtig, dass die Berufung auf die nationale Gemeinschaft keinen Kompromiss mit der vorherrschenden rechten Rhetorik darstellt.“ Gefordert wird eine Diskussion „über das Konzept der nationalen Gemeinschaft“.
Im Vorfeld der Demonstration gab es Hinweise darauf, dass eine Erneuerung der Warschauer Antifa nach dem Desaster vom 11. November 2011 nicht stattgefunden hat. Damals, am polnischen Nationalfeiertag, endete der Besuch deutscher Antifaschisten in Warschau in einer medialen und politischen Katastrophe. Weder die Gastgeber noch die angereisten deutschen Antifas haben Konsequenzen aus ihrem unvorbereiteten Auftreten gezogen. Es gehört zu den Folgen dieser Vorgänge, dass die Warschauer Antifa anlässlich des letztjährigen Gedenktags des Überfalls Deutschlands auf Polen die Erinnerung an die Opfer der planmäßigen Vernichtung europäischer Jüdinnen und Juden für eigene Zwecke funktionalisierte. Der 1. September 1939 wurde mit einem Bild von in den Tod getriebenen Juden nach dem gescheiterten Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 illustriert, ganz so, als habe der „heldenhafte“ Widerstand der Polnischen Streitkräfte im September 1939 der Rettung der polnischen Juden gegolten.
Doch die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden ist nicht die des polnischen Widerstands. Die Warschauer Hobbyhistoriker fügten dem Bild zusätzlich noch den Spruch „Und wir erinnern uns an den Dolchstoß vom 17.9.1939“ bei. Damit wurde die Judenvernichtung in den Kontext des Einmarsches der Roten Armee in Polen gesetzt und der Beitrag der Roten Armee zur Befreiung Tausender KZ-Häftlinge mindestens vernebelt. Dabei wird der 17. September von der polnischen Rechten regelmäßig zur Rechtfertigung antisemitischer Morde, wie derjenigen in Jedwabne 1941 benutzt.
Reaktionäre Reeducation
Nach 25 Jahren ideologischer Reeducation sind polnischen Antifaschisten geschichtliche Tatsachen, die nicht in die von ihnen längst verinnerlichte Totalitarismustheorie passen, sichtlich peinlich. Doch der (tatsächliche wie nachgeholte) Kampf gegen die Rote Armee taugt weder zur Beleuchtung der Geschichte der NS-Vernichtungslager noch zur Kritik des Antisemitismus der polnischen Gesellschaft. Beim Thema antifaschistische Bildung und Erinnerung versagt die polnische Antifa deshalb komplett. Die feministische Aktivistin Zawadzka erklärt die Hinwendung der Antifa zu nationalistischen Formen des Gedenkens als „verzweifelte Suche nach Anerkennung in der dominierenden Strömung der polnischen Kultur“.
Die Reaktionen der Veranstalter auf Kritik an ihrer Verneigung vor dem Denkmal mit der Aufschrift „Gott, Ehre, Vaterland“ machen deutlich, dass diese Loyalitätserklärung kein Arbeitsunfall war. Sie entsprang tatsächlich einem inneren Bedürfnis: endlich ein anerkannter Teil der nationalistischen polnischen Geschichtspolitik sein!
Dabei müssten sie doch wissen, dass Vertreter des Weltverbands der Armia Krajowa und der faschistischen Nationalen Streitkräfte (NSZ) regelmäßig an den von polnischen Faschisten der Młodzież Wszechpolska und Obóz Narodowo-Radykalny (ONR) am Nationalfeiertag organisierten Unabhängigkeitsmarsch teilnehmen. 2013 gaben auf der Zentralbühne dieser Veranstaltung polnische Antisemiten der NSZ und der italienische Faschist Roberto Fiore von der Forza Nuova ein gemeinsames Ständchen. Und im vergangenen Jahr feuerte ein Vertreter der Armia Krajowa im Beisein italienischer, spanischer und ungarischer Faschisten die Massen mit dem Schlachtruf „Weg mit dem Kommunismus!“ an.
Es ist erstaunlich, dass die Organisatoren der letztjährigen „antifaschistischen“ Demonstration nicht gleich ganz auf eine eigene Veranstaltung verzichteten. Immerhin stand ihre „Reichkristallnacht“-Kundgebung ebenfalls unter dem Vorzeichen des nationalen Befreiungskampfs gegen den sowjetischen Kommunismus. Noch bevor die Demonstration startete, wurde der Hauptfeind in einem Grüppchen von UdSSR-Grufties mit Sowjetfahne entdeckt. Paradoxerweise mussten diese vor Demonstrationsteilnehmern durch die Polizei geschützt werden, nachdem ihnen unterm gegrölten „Verpisst Euch!“ ein Aktivist der neofaschistischen Młodzież Wszechpolska am Rande der Demo ungehindert die Sowjetfahne entwendet hatte. Der Nazi-Kader störte die Demoveranstalter weniger als der Kommunist. In einer mittlerweile gelöschten offiziellen Erklärung hieß es dazu: „Diese Gruppe (der Rote-Armee-Sympathisanten, K. M.) wurde dezidiert, aber ohne Gewalt sofort aus unserer Demo entfernt … Die Ablehnung der Teilnahme folgt der Ablehnung jeglicher totalitärer Ideologien – diese Linie werden wir konsequent durchhalten, damit Antifaschismus soviel bedeutet wie authentische Freiheit.“
Um diese „Freiheit“ zurückzugewinnen, kämpfen die polnischen Antifaschisten aus Anlass der „Reichspogromnacht“ für die Rückeroberung nationalistischer Denkmäler: „Entweder lassen wir diese Denkmäler den Rechten, oder wir werden sie auf unsere Weise als eigene Symbole interpretieren”, erklärte einer der Veranstalter.
Solange die Ideologie des Antikommunismus als Grundlage einer Exkulpierung des polnischen Faschismus und als Disziplinierungsmittel der polnischen Gesellschaft Bestand hat, solange wird sich die Antifa in Polen aus ihrer selbstverschuldeten Bedeutungslosigkeit nicht befreien. Deutsche Antifa-Gruppen täten gut daran, ihre bisherige „unbedingte Solidarität“ mit der nationalistischen Strömung der Antifa in Polen zu überdenken.