Archiv für April 2006

Frankreich – Eine Art Selbstverstümmelung

Dienstag, 25. April 2006

Claude Dilain, Bürgermeister von Clichy-sous-Bois bei Paris, über soziale Gettos und eine Gesellschaft, die assimilieren, aber nicht integrieren will

Der Kinderarzt Claude Dilain gehört der Sozialistischen Partei an und ist seit 1995 Bürgermeister von Clichy-sous-Bois. Dort hatten im November 2005 nach dem Tod zweier Jugendlicher, die auf der Flucht vor der Polizei einen tödlichen Stromschlag erlitten, die Unruhen in den Banlieues ihren Ausgangspunkt. Seither kommt Frankreich nicht mehr zur Ruhe.

Das Gespräch führten Emmanuelle Piriot und Kamil Majchrzak

gleichzeitig erschienen in Wochenzeitschrift Freitag # 16 vom 21.04.2006

FREITAG: In Deutschland wurden die Banlieue-Unruhen so präsentiert: Jeden Morgen gab der Rundfunk die Zahl der nachts verbrannten Autos durch, und jeden Morgen stieg die Zahl.
CLAUDE DILAIN: Die Lage war ernst, da gibt es nichts zu bagatellisieren. Aber die Medien haben ein verzerrtes Bild der Ereignisse gezeigt, speziell von Clichy-sous-Bois. Am schlimmsten Abend der Unruhen gab es entlang von 40 Kilometern Straße, die zu unserer Gemeinde gehören, insgesamt nur auf einer Strecke von anderthalb Kilometern Probleme. Die Clichois hatten mehr Angst vor dem, was sie im Fernsehen sahen, als vor dem, was wirklich passierte.
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Tschernobyl: Der Rest ist Schweigen

Mittwoch, 19. April 2006

Tschernobyl Zentrale

Foto: Laurent Hazgui
Weitere Fotos von der Reise in die verbotene Zone abrufbar hier.

Gleichzeitig erschienen in Jungle World # 16 vom 19.04.2006

von Emmanuelle Piriot, Kamil Majchrzak (Text) und Laurent Hazgui (Fotos) aus Tschernobyl (Ukraine)

Mit hastigen Gesten greift Tatiana nach den Dokumenten-Mappen und vergilbten Zeitungsartikeln im Regal. Seit 20 Jahren vervollständigt sie diese Unterlagen. Jetzt liegen sie vor ihr auf dem Teppich. Sie holt tief Luft, dann stellt sie sich vor: »Tatiana Lukina, ehemalige Einwohnerin von Pripjat.« Auch 20 Jahre nach der erzwungenen Umsiedlung aus der unmittelbaren Nachbarschaft des AKW Tschernobyl ist es ihr unmöglich, die Katastrophe zu vergessen. Die Explosion des Reak­tors Nummer 4 am 26. April 1986 hat ihr Leben völlig verändert. Sie lebt seitdem in einem Albtraum. Pripjat wurde als Modellstadt in den siebziger Jahren für die Arbeiterinnen und Arbeiter des AKW gebaut, die man am 26. April über die Ereignisse in Unkenntnis lies.

Erst 36 Stunden nach dem Unfall wurde die gesamte Bevölkerung aus der Stadt gebracht. Vorerst für drei Tage, hieß es damals. Tatiana und ihre Familie wohnen mittlerweile, wie viele andere Evakuierte aus Pripjat, in Troieschjna, einem Stadtviertel von Kiew. Die Hauptstadt der Ukraine liegt etwa 100 Kilometer südlich von Tschernobyl. »Troieschjna: Das sind 44 000 Einwohner, 4 000 Invaliden und 250 Krebskranke«, erzählt Alexei Sergu­eiev, der orthodoxe Pope des Viertels. Der im Ort geschätzte Mann hatte wie viele andere als »Liquidator« des Reaktors gearbeitet. (mehr …)