60 Jahre NATO: Zukunftssicherung durch Krieg, Geheimdienste und Folter
von Kamil Majchrzak
gleichzeitig erschienen in Forum Recht 03/2009
60 Jahre NATO sind auch 60 Jahre nicht vorhandener Öffentlichkeit über fundamentale Fragen der Sicherheit, die Entwicklung militärisch-geheimdienstlicher Kooperationen, die „Legalisierung“ von Folter, sowie die Schaffung von Geheimarmeen zur Bekämpfung der eigenen Bevölkerung einhergehend mit einer partiellen Aufhebung des Rechtsstaates.
Obwohl eine zivil-militärische Zusammenarbeit der Geheimdienste und der Streitkräfte aus verfassungsrechtlicher Sicht äußerst fragwürdig erscheint konzentriert sich die öffentliche Diskussion über die Gefahren für Demokratie und Frieden vor allem auf die vermeintliche Existenz von Terror-Gruppen. Gefahren für die Demokratie, die durch Abschaffung von rechtstaatlichen Verfahren und fehlende Kontrolle über die Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und Militär entstehen, werden bislang kaum diskutiert. Diese „fehlende Aufsicht sowie die mangelnde politische und rechtliche Verantwortung der Geheimdienste“ erleichtert die Durchführung illegaler Aktivitäten durch Geheimdienste und Militär.
Sowohl Rechtswissenschaftler_innen als auch Menschenrechtsaktivist_innen haben es aber bislang versäumt, diesem brisanten Thema gebührende Beachtung zu schenken, obwohl die im Rahmen des sog. Kampfes gegen den Terrorismus bekannt gewordenen Menschenrechtsverletzungen immer auch in Zusammenhang mit der Tätigkeit von zivilen und militärischen Geheimdiensten verübt worden sind. Umso wichtiger ist es die vergangenen 60 Jahre der NATO aus einem kritischen Blickwinkel zu beleuchten.
Geheimarmeen der NATO
Der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti machte Anfang der 1990er Jahre die Existenz einer geheimen Armee in Italien öffentlich, die in ein NATO-Netzwerk integriert war. In diesem Zusammenhang wurde auch der Bericht des italienischen Militärgeheimdienstes Servizio di Informazioni delle Forze Armate (SIFAR) vom 1. Juni 1959 unter dem Titel „The special forces of SIFAR and Operation Gladio” bekannt. Der italienische Ableger dieser geheimen Parallelstruktur der NATO unter dem Namen „Gladio“ wurde anschließend vom italienischen Senat untersucht. Eine Untersuchung des italienischen Senates bestätigte unter anderem die Informationen die der Rechtextremist Vincenzo Vinciguerra bereits während seines Strafverfahrens im Jahre 1984 gegeben hatte. Er hatte damals ausgesagt, dass in den 1960er und 1970er Jahren die Geheimarmee „Gladio“ im Zuge der Bekämpfung linker Gruppen auch Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung verübt habe.
Der Historiker Daniele Ganser von der ETH Zürich belegte mit seinen Recherchen später, dass diese geheimen Armeen nicht nur in Italien existierten, sondern in ganz Westeuropa verstreut waren. Ableger existierten in Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Finnland, in der Türkei, Spanien, Portugal, Österreich, in der Schweiz, Griechenland, Luxemburg und in Deutschland . Eingehende Untersuchungen zu diesem Thema wurden staatlicherseits mit Ausnahme von Italien, Belgien und der Schweiz nie durchgeführt. Dank einer Ermittlung des belgischen Senates wurde zudem bekannt, dass ein Netzwerk zur geheimen Kriegsführung bereits vor der NATO-Gründung bestand. Anfang 1949 wurde das Clandestine Committee of the Western Union (CCWU) gegründet, welches anschließend in die NATO integriert wurde und seit 1951 unter dem Namen Clandestine Planning Committee (CPC) operierte. Dieses sollte im Falle einer Invasion in Westeuropa oder eines ungewollten demokratischen Wahlergebnisses für den Untergrundkampf gerüstet sein und die Machtergreifung durch linke Parteien verhindern. Die NATO koordinierte dann später über das Allied Clandestine Comitee (ACC), welches dem Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) angegliedert war, gemeinsam mit dem CPC dieses geheime Netz der paramilitärischer Gruppen in Europa. Während die CIA und der britische MI6 die Einheiten ausgerüstet und trainiert sowie teilweise finanziert haben, sorgte die NATO für deren Koordination.
Der Kampf gegen den „inneren Feind“
Die Gründung dieser Geheimarmeen basierte dabei auf der Strategie eines Kampfes gegen den „inneren Feind“, bekannt auch als „Strategie der Spannung“. Das italienische Beispiel macht deutlich, dass das Ziel dieser Strategie darin bestand, die eigene Bevölkerung mit blutigen Anschlägen in Furcht und Schrecken zu versetzten und von einer vermeintlichen kommunistischen Gefahr zu überzeugen. Der Terror, dessen Herkunft für die Menschen im Unklaren bleibt und die Angst, die er hervorruft dienten dabei der Manipulation der öffentlichen Meinung. Im Zuge des Skandals wurde ein geheimes US Army Field Manual 30-31B aus dem Jahre 1970 entdeckt, das von General Westmoreland unterzeichnet ist. Das Dokument, dessen Authentizität von US-Behörden bislang bestritten wird, tauchte auch im Zusammenhang mit einer parlamentarischen Untersuchung in Belgien auf. Darin wird die Durchführung sog. „false flag operations“ also manipulierender Terroranschläge, Provokationen und die Radikalisierung linker Gruppen zwecks Gewaltanwendung, vor allem in Friedenszeiten, beschrieben. Der belgische Senat nennt als Beispiel den gescheiterten Versuch eine niederländische Friedensbewegung zu infiltrieren und zu Gewalttaten anzustacheln. In Griechenland war die Spezialeinheit Lok als Geheimarmee mit doppeltem Auftrag am Militärputsch 1967 beteiligt. Für die Anschläge 1980 am Münchner Oktoberfest mit 13 Toten und über 200 Verletzten soll Waffenmaterial aus den Lagern einer deutschen Geheimarmee verwendet worden sein. In Belgien soll deren Geheimarmee Mitte der 80er Jahre in die Brabant-Anschläge verwickelt worden sein, bei denen wahllos Menschen in Geschäften niedergeschossen und 28 Menschen getötet wurden. Die Teilnahme der Schweiz an dem genannten geheimen Programm der NATO mit seiner Geheimarmee P-26 und später auch an dem Extraordinary Rendition Program belegt zudem, dass das Netzwerk der Geheimarmeen keines Wegs der Abwehr von gewalttätigen Umstürzen dienen sollte. Zu keiner Zeit lagen in der Schweiz tatsächliche Anhaltspunkte für die Vorbereitung eines Umsturzversuches vor und es gab damals auch keinen einzigen Fall von Terrorismus.
Offiziell wurden die Geheimarmeen durch den politischen Skandal Anfang der 1990er aufgelöst. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass selbst wenn dies zutrifft, es nur teilweise eine Lösung des Problems darstellt. Denn die dahinter stehende Strategie der Spannung als Taktik der sozialen Manipulation bleibt bestehen. Auch bei den aktuellen Sicherheitsdebatten und der Implementierung eines rechtlichen Überwachungsmechanismus geht es um einen politisch, sozial, religiös bzw. rassistisch definierten „inneren Feind“. Die Methoden und Prinzipen welche die NATO während des Kalten Krieges inspirierten, sind nicht einfach verschwunden. Nach 1989 wurden sie mehr oder weniger öffentlich Teil der militärischen Vorherrschaft industrialisierter Staaten im Äußeren. Zugleich befördern sie die Reorganisation der Kontrolle im Innern nach dem Ende der Bipolarität.
Full Spectrum Dominance
Die NATO fühlt sich heute für so unterschiedliche Themen wie drohende Klimaschäden, die Energiekrise, die Bekämpfung „unkontrollierter“ Migration, den Menschenhandel und die Abwehr moderner Verwerfungen die – euphemistischen als- „dark side of globalisation“ bezeichnet werden, aber Terrorismus und die Bedrohungen durch HIV und SARS meinen, verantwortlich. Dieser Paradigmenwechsel vollzieht sich unter dem Leitgedanken der „Full Spectrum Dominance“, einem weiteren bon mot zur Beschreibung einer umfassenden Kontrolle des „Schlachtfeldes“. Während sich jedoch früher auf dem Schlachtfeld Armeen gegenüberstanden, findet die Schlacht heute auf sozialer Ebene statt. Jeder kann sich durch Kritik am System verdächtigt machen und ein Terrorist werden. Aus menschenrechtlicher Perspektive gehört der „War on Terror“ mit seinen inhumanen Praxen gegenüber Gefangenen, seinem Überwachungsinstrumentarium und der Aufhebung der „rule of law“ zu den fatalsten Folgen dieser Evolution.
Ein Beispiel dafür ist die gegenwärtige Praxis der Mitgliedsstaaten der als Verteidigungsbündnis gegründeten NATO unter einem Verteidigungsfall auch Geheimoperationen wie das geheime Extraordinary-Rendition-Programm der CIA zu subsumieren, welches am 4. Oktober 2001 auf der NATO-Ministerkonferenz auf Grundlage von Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages inter alia akzeptiert wurde. Denn wie der Berichterstatter des Europaparlaments (EP) Claudio Fava ermitteln konnte, erlangten während eines informellen transatlantischen Treffens der Außenminister der Europäischen Union (EU) und der NATO einschließlich der US-Außenministerin Condoleezza Rice die EU-Mitgliedstaaten spätestens am 7. Dezember 2005 Kenntnis von diesem Programm der außerordentlichen Überstellungen. Alle offiziellen Gesprächspartner des nichtständigen Ausschusses des Europaparlaments hatten dagegen dazu vorher falsche Angaben gemacht. Als Folge dieses geheimen Programms gewährten die NATO-Mitgliedstaaten, im Namen der CIA operierenden Flugzeugen, Überflug- und Zwischenlande-Genehmigungen. Die CIA war dabei aber nicht nur auf die Zusammenarbeit mit den jeweiligen nationalen Geheimdiensten angewiesen, sondern auch auf die Infrastruktur der NATO. So wurde beispielsweise der in Italien anerkannte Flüchtling Abu Omar am 17. Februar 2003 von der CIA in Mailand entführt und über die NATO-Militärbase Aviano und anschließend den NATO-Militärflughafen im deutschen Ramstein nach Ägypten ausgeflogen. Dort wurde er bis 2007 in Isolationshaft gehalten und gefoltert. Die in Polen stattgefundenen geheimen Verhöre von Terrorverdächtigen in sogenannten „black sites“ unterlagen nach Recherchen des Sonderberichterstatter des Europarates Dick Marty der höchsten NATO-Geheimhaltungsstufe mit dem märchenhaften Namen „Cosmic Top Secret“.
Das – von den nationalen Parlamenten nicht ratifizierte geheime „Quasi-Abkommen“ von 2001 – auf dessen Grundlage z.B. der polnische Militärgeheimdienst WSI (Wojskowe Służby Informacyjne) auch die Sicherheit der sog. „black sites“ der CIA in Polen gewährleistete, steht zudem in Widerspruch zu den weiterhin gültigen Informationsfreiheitsgesetzen in Osteuropa. Darüber hinaus stellt es die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte auf Information in den jeweiligen Ländern in Frage.
Das EP hatte bereits am 22. November 1990 in seinem Entschluss zur Gladio-Affäre die Einrichtung von geheimen Organisationen der NATO und der CIA zwecks Einflussnahme und Durchführung von Aktionen verurteilt. In der gleichen Entschließung protestierte das EP gegen die Anmaßung „bestimmter amerikanischer Militärkreise des SHAPE und der NATO“, die in Europa eine geheime Infrastruktur zur Übermittlung von Nachrichten und Durchführung von Aktionen geschaffen haben.
16 Jahre später sah sich der Berichterstatter Claudio Fava dann gezwungen diese Kritik in seinem Bericht über die Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen zu wiederholen. Dabei wies er im Kontext der Folter-Flüge der CIA auf „das Vorhandensein geheimer Tätigkeiten unter Beteiligung von Geheimdiensten und militärischen Organisationen außerhalb jeglicher angemessener demokratischer Kontrolle“ hin.
Die Doktrin zur Bekämpfung des inneren Feindes
Angesicht der Maßnahmen zur Bekämpfung des sog. Terrorismus nach dem 11. September 2001 ist es notwendig nach der Herkunft und der Weiterentwicklung dieser ursprünglich während des Kalten Krieges eingesetzten Instrumente, Konzepte und der sie prägenden Ideologie zu fragen.
Auf der Grundlage von bislang nicht erschlossenen Primärquellen des französischen Archivs der École militaire, hat der französische Soziologe Mathieu Rigouste in seiner kürzlich veröffentlichten Untersuchung „L’ennemi intérieur“ einen sehr wichtigen Beitrag zur Aufdeckung der Genealogie des modernen Kampfes gegen den Terrorismus vorgelegt.
Die europäische Dimension dieser sicherheitspolitischen Mechanismen hat laut Rigouste ihre Wurzeln in der französischen Erfahrung der Aufstandsbekämpfung in Indochina (1946-1954) und Algerien (1954-1962). Die «l’Ecole française» oder „doctrine de la guerre révolutionnaire“ ist bis heute eine der wichtigsten Referenzen in der internationalen Tradition der Aufstandsbekämpfung. Rigouste rekonstruierte anhand mehrerer bislang geheimer Dokumente die Entwicklung der Repräsentation des „inneren Feindes“ in der staatspolitischen Ideologie Frankreichs seit den 1960er Jahren und deren Verbreitung in den USA und somit auch der NATO. Die Entwicklung der sicherheitspolitischen Dispositive kann unter Rückgriff auf ein sozio-ethnisch definiertes Rahmenmodell erklärt werden. Es sind nämlich die immer wiederkehrenden Motive der Aufstandsbekämpfung von den Kolonien, über den Kampf gegen den Terrorismus, bis zu den Unruhen in den Pariser Banlieus. Die verschiedenen Phasen des staatlichen Kampfes gegen Migrationsbewegungen bilden dabei ein paralleles Bild zur gleichzeitigen Strukturierung des öffentlichen Anti-Terror-Kampfes. Die erschreckende Entwicklung der innenpolitischen Kontrolle besitzt somit eine mediale und ökonomische Dimension, die sich in der Rolle der nationalen Leitkultur bei der Implementierung einer neuen Sicherheitsordnung widerspiegelt.
Im Anschluss an die verheerende Niederlage französischer Truppen in der Schlacht um Điện Biên Phủ im Jahre 1954 wurden die Ideen und Techniken der Aufstandsbekämpfung rationalisiert und systematisiert. Bereits 1957 wurde in Frankreich ein spezielles Büro Nr. 5 zur psychologischen Kriegsführung während der «Bataille d‘ Alger» gegründet.
Die Militärs gingen dabei davon aus, dass die Bevölkerung des – damals französischen – Departements Algerien zwar ein zu schützendes Gut sei, zugleich jedoch die Quelle der Bedrohung selbst darstellt. Maßnahmen zur Bekämpfung des Aufstandes sollten demnach dazu dienen die Bevölkerung von den Aufständischen zu trennen, die Bevölkerung lehren diese zu erkennen und gegen deren Einfluss immunisiert zu sein.
Bevölkerung als Bedrohung
Rigouste hat festgestellt, dass dabei die Krankheits-Metaphorik ein grundsätzliches Element der «doctrine de la guerre révolutionnaire» (DGR) bildet. Diese Doktrin betrachtete soziale Aufruhr als ein „Geschwür“, die Bevölkerung als ein von Wundbrand befallenes Organ und die Armee als Chirurgen. Dies führte zwangsläufig zur Anwendung von Terror durch die Armee gegen die Zivilbevölkerung. Solche Maßnahmen gegen Aufständische wurden per se durch den Glauben gerechtfertigt, das der Feind sich in der Bevölkerung versteckt hält. Die Abwehr des „inneren Feindes“ bedurfte deshalb offiziell keiner moralischen Rechtfertigung der eingesetzten Mittel. Denn der Kampf gegen den „inneren Feind“ wurde a priori zu einem Überlebenskampf der westlichen Zivilisation stilisiert.
Ob es sich nun um US-amerikanische Massaker einer Hochzeitsgesellschaft in Maqarr adh-Dhib (2004), das Abschlachten von Kindern in Haditha (2005), oder die Ermordung von Zivilisten durch polnische Streitkräfte im afghanischen Naghar Khel (2007) handelt – es sind weder sog. Kollateralschäden, noch Arbeits-Unfälle. Ähnlich wie während des Massaker von My Lai (1968), als auch während der Folterungen in Algerien (1954-1962) oder dem „water boarding“ in den polnischen „black sites“ (2002-2005) handeln die selbsternannten Verteidiger der Demokratie jeweils auf ausdrücklichen Befehl. Denn der „Feind“, wird spätestens mit der Folterhandlung kein Mensch mehr und muss von der Bevölkerung ausgesondert werden. Dieses Schema wird an einem Vortrag des französischen Generals Jacques Allard während einer Konferenz vor dem Institut des Hautes Études de Défense Nationale (IHEDN) und dem Centre des Hautes Études Militaires (CHEM) deutlich – zwei wichtigen Institutionen bei der Verbreitung dieser Konzepte innerhalb der französischen Armee und politisch-militärischen Kreisen: „Das wichtigste, essentielle Ziel ist die Bevölkerung. Denn die Bevölkerung stellt die unabdingbare Umwelt, ein notwendiges kulturelles Bouillon der Verbreitung des revolutionären Virus dar. Es ist das Wasser ohne welches der Fisch nicht überleben kann…“ Hierin wird der neue Typus der Verhältnisse zwischen Bevölkerung und dem Staat sichtbar der sich in der Immunisierung der Bevölkerung vor dem revolutionären Phänomen niederschlägt.
Kolonisierung der Gesellschaft
Auch zu Beginn des neuen Jahrtausends sehen sich Frankreich und viele andere Staaten mit der Etablierung eines Kontrollmodells konfrontiert, das angeblich die Bevölkerung vor der Verbreitung „neuer Bedrohungen“ innerhalb der Gesellschaft schützen soll: Islamismus, Terrorismus, illegale Einwanderung, urbane Gewalt. Um die Errichtung dieses Sicherheitsarsenal zu rechtfertigen, bedient man sich erneut der Bestimmung des „inneren Feindes“.
Die Experimente der französischen Armee mit neuen Techniken der Aufstandsbekämpfung während des Algerien-Krieges erzeugten Anerkennung unter den Militärs der westlichen Staaten. Bereits im März 1956 wurde Oberst Charles Lacheroy von den USA ins Pentagon eingeladen, um über die neuesten Ergebnisse der psychologischen Kriegsführung zu berichten. Bei der Vorführung eines Bataillons der „Psychological Warfare Service“ kritisierte er dessen Führung wegen fehlender politisch-militärischer Aktivitäten.
Ein Jahr später veranstaltete General Jacques Allard in Fontainebleu eine Konferenz vor dem SHAPE der NATO, das sich zum damaligen Zeitpunkt noch in Frankreich befand. Dabei präsentierte er die Grundzüge eines „nicht konventionellen“ Krieges. Allard versuchte dabei die NATO zu überzeugen, dass die Bekämpfung der Aufständischen in Algerien die Abwehr einer globalen kommunistischen Aggression darstellt und somit stellvertretend für eine Verteidigung der „freien Welt“ steht. Der General beendete seine Ausführungen in dem er die Lockerung der rechtlichen Regelungen einforderte, um die militärische Praxis nicht zu behindern.
Die Erosion rechtsstaatlicher Verfahren innerhalb des Strafrechts, der Kriminalistik und der zwischenstaatlichen Gewaltanwendung stellt auch heute noch ein grundsätzliches Paradigma der Sicherheitspolitik dar. Die Arbeiten französischer Theoretiker der Aufstandsbekämpfung wie Roger Trinquier, David Galula, Jean Lartéguy oder Constantin Melnik zählen zu den am meisten geschätzten Medien in angelsächsischen Bibliographien zu Counterinsurgency.
Solange die Wissenschaft und Menschenrechtler_innen die Wurzeln moderner Sicherheitspolitik nicht hinterfragen und zumindest die bestehenden Rechtsinstrumente der bürgerlichen Demokratien nicht voll ausschöpfen, solange werden wir passive Zeugen der beschriebenen Erosionsprozesse des Rechts bleiben. Eine emanzipierte Gesellschaft rückt damit auch in Zeiten der Krise in weite Ferne.
Kamil Majchrzak ist Assistent der Geschäftsleitung und Legal Analyst des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)
Weiterführende Literatur:
1. Ganser, Daniele, NATO’s secret armies: operation Gladio and terrorism in Western Europe, London 2005.
2. Rigouste, Mathieu, L’ennemi intérieur. La généalogie coloniale et militaire de l’ordre sécuritaire dans la France contemporaine, Paris 2009.
Fußnoten:
1. Siehe: Scheinin Report, 7 : http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/10session/A.HRC.10.3.pdf (06.06.2009).
2. Siehe: http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm?lng=en&id=20213&navinfo=15301 (06.06.2009).
3. Siehe: http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm?lng=en&id=20193&navinfo=15301 (06.06.2009).
4. Siehe auch: Latsch, Die dunkle Seite des Westens, DER SPIEGEL, Nr. 15/2005, 48 ff.
5. Ganser, Daniele, The Secret Side of International Relations: An approach to NATO’s stay-behind armies in Western Europe: http://www.psa.ac.uk/journals/pdf/5/2005/Ganser.pdf (06.06.2009).
6. Siehe: Latsch, a.a.O., 49.
7. Siehe dazu: [Belgischer Senat], 94 : http://www.senate.be/lexdocs/S0523/S05231297.pdf (06.06.2009).
8. Ebd., 91-93.
9. Ganser, Daniele, NATO’s secret armies: Operation Gladio And Terrorism In Western Europe, London 2005, 15 ff.
10. Vgl.: http://www.php.isn.ethz.ch/news/mediadesk/documents/baz_16_12_2004.pdf (06.06.2009).
11. Siehe: Brotz, Sandro / Jost, Beat , CIA-Gefängnisse in Europa, Zürich 2006, 95 ff.
12. Siehe dazu: Towards a Grand Strategy for an Uncertain World Renewing Transatlantic Partnership. Abrufbar unter: http://www.csis.org/media/csis/events/080110_grand_strategy.pdf (06.06.2009).
13. Siehe dazu: Ben Hayes, “Full Spectrum Dominance” as European Union Security Policy: On the Trail of the “NeoConOpticon”, in: Surveillance and Democracy (erscheint im Oktober 2009 bei Routledge-Cavendish).
14. Claudio Fava Report, 5. Abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/a6/p6_a(2007)0020_/p6_a(2007)0020_en.pdf (06.06.2009).
15. Ebd., 10.
16. Siehe dazu: CIA –»Extraordinary Rendition« Flights, Torture and Accountability – A European Approach, 80-87: http://www.ecchr.eu/index.php?file=tl_files/Dokumente/ECCHR_Rendition_SecondEdition_online.pdf (06.06.2009).
17. Siehe: Secret detentions and illegal transfers of detainees involving Council of Europe member states: second report: http://assembly.coe.int/Main.asp?link=/Documents/WorkingDocs/Doc07/EDOC11302.htm (06.06.2009).
18. Entschließung des EP zur Gladio-Affäre, Amtsblatt Nr. C 324 vom 24/12/1990 S. 0201.
19. Claudio Fava Report, 4.