Im Westen nichts Neues
Nachhilfeunterricht aus der arabischen Welt für die deutsche Linke
von Kamil Majchrzak, gleichzeitig erschienen in Soz – Sozialistische Zeitung # 02/2011
Menschen aus der gesamten arabischen Welt kämpfen in diesen Tagen um demokratische Teilhabe und die Anerkennung ihrer Würde. Nach dem Vorfrühling in Tunesien und Ägypten finden nun auch die Menschen in Libyen, Bahrain, Jemen, Marokko sowie anderen arabischen Ländern, trotz massiver Repressionen, den Mut, auf die Straße zu gehen. Es scheint als habe die ägyptische Revolution dabei der Idee des Panarabismus einen neuen Rahmen gegeben, den die Menschen in verschiedenen arabischen Ländern durch ihre Kämpfe mit Inhalt füllen wollen. Es ist keine einfache Replik des panarabischen Nationalismus aus den 50er oder 60er Jahren. Vielmehr ist es die Antwort auf seine uneingelösten Versprechen sich aus Kolonisation, sozialem Elend und der vom Westen vorenthaltenen Demokratie mit eigenen Händen zu befreien.
In den vergangenen fünfzig Jahren haben die Menschen gelernt, dass die Beseitigung britischer, französischer oder deutscher Militärposten allein nicht den Weg für eine soziale Wiedergeburt frei macht. Die Demonstranten vom Tahrir-Platz sind reicher um die Einsicht, dass die Verwerfungen bestehender Herrschaftsverhältnisse nicht lediglich auf eine ausländische Hegemonie reduziert werden können. In Ägypten oder Tunesien haben auch nicht die ausländische Bedrohung, der völkerrechtswidrige Überfall auf den Irak und Afghanistan oder die Morde der israelischen Armee in den besetzten Gebieten die Proteste ausgelöst, sondern die Solidarität der Verdammten mit den Verdammten dieser Region. Dies soll nicht heißen, dass sich der Aufbruch nicht gegen den westlichen Imperialismus richtet. Im Gegenteil. Doch die arabische demokratische Bewegung zeigt ein weitsichtigeres Verständnis menschlicher Emanzipation als die verkalkte Logik der westlichen Demokratien, wonach die Sicherheit und das Wohlergehen des Westens nur durch die weltweite Aufrechterhaltung von Diktaturen und die Niederwerfung der betreffenden Bevölkerung möglich wären.
Demokratische Maskerade
Die Bilder von MAN-Wasserwerfern aus deutscher Produktion, die zur Niederschlagung der Proteste in Ägypten eingesetzt wurden liefen über die Bildschirme der ganzen Welt. Fast alle Länder des Nahen und Mittleren Osten beziehen Waffen aus deutscher Produktion. Diese Region zählt nicht nur zu den instabilsten, sondern gleichzeitig zu den am stärksten militarisierten der Welt. In diese Stabilitätsinseln genehmigte die Bundesregierung als «Demokratiehebel» (Konrad-Adenauer-Stiftung) allein im Jahr 2009 Exporte für Waffen und sonstige Rüstungsgüter im Wert von rund einer Milliarde Euro. Grundlage für die deutschen Waffenexporte sind heute immer noch die «Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern», die noch von der rot-grünen Regierung im Jahr 2000 beschlossen wurden; auf EU-Ebene ist es der «Gemeinsame Standpunkt 2008/944/GASP des Rates der Europäischen Union vom 8.Dezember 2008 betreffend gemeinsamer Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern». Im neusten Rüstungsexportbericht der Bundesregierung finden sich neben Ägypten, dem Hauptempfänger unter den Entwicklungsländern, auch Libyen, Bahrain, Jemen, Marokko und viele andere Länder, deren Staatschefs heute gewaltsam gegen die demokratische Opposition vorgehen.
Der arabischen Bevölkerung gelang es, durch Massendemonstrationen den Widerspruch im westlichen Demokratieverständnis frei von jedem kommunikativen Fehler sichtbar zu machen. Eine Leistung, die der hiesigen, in ihrem Selbstverständnis radikalen, Linken und ihrer akademischen Avantgarde bislang nicht gelungen ist. Dies ist umso bemerkenswerter, als seit dem Zusammenbruch des Ostblocks bislang weder der antikoloniale Nationalismus im Sinne des traditionellen Panarabismus, noch ein laizistischer Sozialismus zum allgemeinen Ausdruck des Widerstands in diesem Teil der Welt werden konnte. Der jüngeren Generation, die zu Hause nur die Entmündigung und Erniedrigung ihrer Eltern durch hausgemachte Marionetten des Westens erlebte, die in der Zeit von Guantánamo und CIA-Geheimgefängnissen aufwuchs, und der in den Metropolen des Nordens nur Rassismus und Ausbeutung widerfuhr, blieb nur die Bezugnahme auf den Islam.
Dieser Regress war nicht etwas spezifisch Arabisches. Auch die europäische Linke hat sich nach dem Fall der Mauer mit einem Ende der Geschichte arrangiert und den Horizont der bürgerlichen Demokratie für unhinterfragbar erklärt. Der grassierende Rassismus und Rechtsextremismus in Ost- und Westeuropa ist Ausdruck des gleichen Elends.
Doch im Gegensatz zu Europa wird in Ägypten und anderen arabischen Ländern wenigstens versucht, diesem Rückschritt ein Ende zu setzten und neue politische Formen zu erproben. Dagegen verharrt der Westen in seiner Fin-de-siècle-Dekadenz. Der Liberalismus als System, Ideologie und politisches Angebot gehörte spätestens mit dem – auf seinem Mist gewachsenen – Faschismus der Vergangenheit an. Mit dem Zusammenbruch des Nominal-Sozialismus im Osten erlebt der Kapitalismus in der westlichen Welt dennoch eine Renaissance.
Linke mit verengtem Horizont
Insbesondere die außerparlamentarische Linke war bislang nicht in der Lage, die Konvergenz der Kämpfe an den sozialen Fronten dieser Welt aufzuzeigen. Ihre bisherigen Forderungen haben längst den Horizont der Überwindung dieses Systems aus den Augen verloren. Es scheint, als könne diese Linke, im Gegensatz zu den Menschen vom Tahrirplatz, einen Kriegsminister nicht für seine Kriegsverbrechen stürzen, sondern ihn nur zum Rücktritt auffordern, weil er den wissenschaftlichen Gepflogenheiten bei der Anfertigung seiner Dissertation nicht gefolgt ist.
Der Nachhilfeunterricht der Ägypter für die sozialen Bewegungen in Deutschland besteht in der Einsicht, dass reaktive Forderungen nie eine Veränderung bringen. Wir müssen mit den bisherigen Formen und Organisationen politsicher Kämpfe brechen. Die jüngste Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass die hiesige soziale Bewegung nur die Sprache des Regresses kennt. Sie hat das Feld der sozialen Forderungen kampflos dem Kapital übergeben, denn sie ist – entgegen ihrem Selbstverständnis – Teil der bestehenden Hegemonie. Die sozialen Bewegungen bemühen sich nur noch um gestrige Selbstverständlichkeiten: wie die Gewährleistung der kommunalen Wasserversorgung, die Bewirtschaftung eines stillgelegten Flughafens oder die Erhaltung eines Bahnhofs.
Eine kulturalistisch verblödete akademische Linke deutet indessen ökonomische Verhältnisse in kulturelle Zuschreibungen um und kapriziert sich auf Anerkennungskämpfe jener postulierten Identitäten, die sie vertreten möchte. Die Forderungen der zahlreichen linken Gruppierungen sind auf den restaurativen Zeitgeist zugeschnitten. Sie beginnen mit Identitätspolitik und enden auch dort. Nicht die Analyse kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse, sondern die nicht enden wollenden Untersuchungen ihrer geschlechtlichen Individualität stehen in im Zentrum ihres Interesses.
«Gebildeten Leuten kann man überhaupt nichts beweisen», erklärte einst die Analphabetin Pelagea Wlassowa in Bertolt Brechts Theaterstück Die Mutter. Am Ende des Unterrichts war es jedoch der Lehrer Nikolai Iwanowitsch, der einsichtig wurde. Wenn wir lernen wollen, dann müssen wir auch «über den Rand hinaus schreiben» lernen, wovor in Brechts Stück der Lehrer vor dem Unterricht eindringlich gewarnt hatte.
Der Aufbruch der Menschen in Ägypten hat gezeigt, dass der Begriff Würde und Emanzipation noch einen Wert besitzt. Es liegt an uns, diese Inhalte an allen sozialen Fronten dieses Bürgerkrieges zu erkämpfen.
Kamil Majchrzak ist Redakteur der polnischen Edition von Le Monde Diplomatique.